Gerade erst durfte ich eine vierjährige Stute behandeln, deren Besitzerin mich geholt hatte, „weil die so schlecht läuft“. Eine Rückfrage beim früheren Bereiter, ob er wisse, wo denn die kleinen Narben herkommen, die über den ganzen Körper verteilt waren – und die außer mir noch keiner wahrgenommen hatte – bestätigte meinen Verdacht: Das Tier hatte sich wenige Monate zuvor auf dem Weg zur Weide losgerissen und überschlagen.
Warum aber kommt in Fällen wie diesen niemand darauf, dass ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen einem Unfall und den schweren Rittigkeits- sowie inzwischen schon leichten Bewegungsstörungen, die das junge Pferd schon eine ganze Weile zeigte? Meiner Ansicht noch sind die Gründe vielfältig:
Zuerst einmal wissen viele nicht, oder vergessen es wieder, dass Pferde Fluchtiere sind. Heißt, sie stehen wieder auf und tun so, als ob alles in Ordnung wäre. (Wie ein Fußballer, der eben einen anderen gefoult hat und dem Unparteiischen zuruft „Nix passiert Schiri, nix passiert“, während der Kontrahent sich am Boden vor Schmerzen das blutende Schienbein hält. Ich gebe zu, der Vergleich hinkt, denn das Pferd wäre die beiden Fußballer in Personalunion.) Es steht also auf und läuft weiter „als ob nichts passiert wäre“, was auf dem Hof des Bereiters auch im Fall der Stute beobachtet worden war. Klar, sonst würde es den – heutzutage nicht mehr allgegenwärtigen – Raubtieren quasi sagen: „Hier fresst mich als nächstes, ich bin leichte Beute.“ Das möchte es verständlicherweise vermeiden.
Ein weiterer Grund ist, dass im Falle solch eines Traumas meist die innersten Skelettmuskeln die Hauptarbeit beim Schutz des Körpers übernehmen. Durch die damit verbunden physiologischen Prozesse im Körper kommt es meist zu einer Verzögerung beim Auftauchen von Problemen. Das heißt, offensichtliche Bewegungseinschränkungen oder -auffälligkeiten entwickeln sich erst nach einigen Tagen oder Wochen. Das führt leicht dazu, dass der Zusammenhang mit dem ursprünglichen Trauma nicht mehr erkannt wird.
Geringfügige Bewegungseinschränkungen werden außerdem von vielen Reitern gar nicht wahrgenommen. Beim eigenen Pferd, das man nur kurz auf dem Weg zum Putz- und Reitplatz neben sich sieht schon gleich gar nicht. Betriebsblindheit ist auch in dem Bereich gang und gebe. Wenn überhaupt spürt man, dass das Pferd etwas unrittiger oder weniger fleißig ist oder sich auf eine Seite schlechter stellen und biegen lässt. Viele erkennen deshalb ein Problem erst, wenn es richtig krass wird. Und nicht zuletzt ist es natürlich einfacher, günstiger und bequemer, wenn man einfach mit „dem Schrecken davonkommt“ und nichts passiert ist. Das ist menschlich und durchaus verständlich und verleitet zum Wegschauen.
Um diesen Fallen zu entgehen hilft meiner Ansicht nach nur, sich selbst zu trainieren, täglich das Pferd zu überprüfen (wie das ganz einfach geht werde ich in einem der nächsten Beiträge erklären), sein Auge zu schulen und ein Stalltagebuch zu führen, in das man neben Hufbearbeitungsterminen und tierärztlichen Einsätzen auch Besonderheiten wie eben Unfälle oder frische Verletzungen einträgt.
Konnte ich Ihnen helfen? Sie können mich gerne über PayPal (paypal.me/pferdekosmos) mit einer Spende unterstützen. Dankeschön!