Rasiert eure Gedanken

Ab und an rufen mich Pferdebesitzer an und stellen Fragen wie: „Ein Bein ist hinten innen über der Fessel dick. Kann das eine Sehne sein? Und soll ich kühlen?“ Dann helfe ich immer gerne beim Rasieren der Gedanken.

Ockhams Rasiermesser ist der Name eines Prinzips, das in erster Linie darauf beruht, dass man bei der Suche nach Erklärungen für ein bestimmtes Phänomen diejenige Theorie bevorzugen sollte, die mit den wenigsten Hypothesen auskommt. Die einfachste Theorie ist vorzuziehen – die anderen werden mit dem Rasiermesser sozusagen abgeschnitten.

Der Franziskanermönch Wilhelm von Ockham benutzte ein „virtuelles“ Rasiermesser, keinen Einwegrasierer, zur Darlegung seines Denkmodells. (© DreamGuy, Wikipedia)

Der Franziskanermönch Wilhelm von Ockham benutzte ein „virtuelles“ Rasiermesser, keinen Einwegrasierer, zur Darlegung seines Denkmodells. (© DreamGuy, Wikipedia)

So funktioniert die Technik das Franziskanermönchs und Philosophen aus dem 14. Jahrhundert: Wer ein Loch in einer Jackentasche entdeckt und gleichzeitig Geld vermisst, das er in dieser Jackentasche bei sich trug, sollte davon ausgehen, dass er es durch das Loch verloren hat. Es ist weniger wahrscheinlich, dass es ihm im Bus aus dieser Tasche geklaut wurde während er abgelenkt war weil er eine SMS las.

Ich weiß als Pferdebesitzer, dass es schwer ist, einen kühlen Kopf zu behalten, wenn das eigene Tier etwas hat. Oft reicht es dann schon, wenn man jemanden hat, der einem beim Rasieren hilft. Kommen wir zu dem Beispiel mit dem leicht angelaufenen Bein zurück: Das Pferd lahmt nicht. Die Stelle ist nicht warm. Schon jetzt deutet laut Ockham viel darauf hin, dass dieses Pferd, das regelmäßig auf Verletzungen mit einem leichten Anschwellen des Unterhautbindegewebes reagiert, keinen Sehnenschaden hat. Am nächsten Tag wird eine kleine verschorfte Wunde gefunden.

In anderen Fällen ist es nicht ganz so einfach, aber es hat nie Sinn, sich verrückt zu machen. Das hilft weder einem selber, noch dem Pferd, noch dem Therapeuten, falls man zu dem Schluss kommt, dass man einen braucht. Ockhams Rasiermesser kann dabei eine große Hilfe sein, vor allem, wenn man es als solche und nicht als Regel betrachtet. Was einem ebenfalls helfen kann, die Gedanken zu sortieren ist ein einfach gehaltenes Anatomiebuch. (In diesem Fall hätte es gezeigt, dass da gar keine Sehne läuft.) Und auch ein Erste-Hilfe-Kurs für Pferde ist ideal für jeden Pferdebesitzer und Reiter. Denn er trägt dazu bei, Verletzungen oder Erkrankungen gelassener und gleichzeitig realistischer beurteilen zu können.