In Diskussionen über die Arbeit anderer – auf Turnieren oder im Netz – gehen die Meinungen oft stark auseinander. Streitpunkt ist häufig, ob das gezeigte Reiten „reell“ ist. Der Begriff meint, dass die Ausbildung nach klassischen Kriterien korrekt ist und das Reiten nicht nur leicht aussieht, sondern es auch tatsächlich ist. Spoiler: Schon bei der Definition von reellem Reiten gehen die Ansichten auseinander.
Für mich persönlich ist einer der wichtigsten Aspekte reeller Arbeit, dass nicht nur körperlich Rücksicht auf das jeweilige Pferd und seine persönlichen Stärken und Schwächen genommen wird, sondern auch im Hinblick auf seine Psyche (Stichwort: Losgelassenheit).
Das bringt mich wieder zu der Eingangsfrage, wie man Reiten beurteilt. Es gibt einen ganz einfachen Grundsatz, der für alle Reitweisen gilt und der jederzeit anzuwenden ist (und sein muss): Wie bewegt sich das Pferd nach der zu beurteilenden Lektion?
Wenn man beispielsweise Schulterherein im Schritt reitet und das Pferd aus der Lektion entlässt, dann muss folgendes passieren, damit das Schulterherein vorher korrekt war: Das Pferd tritt mit beiden Hinterbeinen energischer unter den Schwerpunkt. Das lässt sich von außen sehen und von oben spüren. Das Pferd lässt, wenn das Zügelmaß nach der Lektion verlängert wird, den Hals fallen. Zeigt das Pferd nach dem Beenden des Schulterhereins einen „Schleichmodus“, drückt es den Rücken weg oder läuft einfach nur mit hohem Hals schneller, kann man davon ausgehen, dass die gymnastizierende Arbeit nicht reell war. Das gilt im Prinzip für jede andere Lektion ebenso.
Im Moment ist es Trend, stark versammelnde Lektionen zu trainieren. Vielfach sieht man bei der Arbeit schon, dass das Pferd den Takt nicht halten kann, das Gleichgewicht gestört ist oder mit zu viel Hand geritten wird. Manchmal ist das aber nicht zu sehen oder zu erkennen oder wird nicht gemacht. Und dann hilft bei der Beurteilung, zu sehen, wie das Pferd sich bewegt, nachdem es die Aufgabe beendet hat.
Wird das Pferd aus der Übung entlassenen, muss es einen taktreinen Gang und eine losgelassene Körperhaltung zeigen. Ist der Takt – egal ob Schritt, Trab oder Galopp – danach gestört, ist das ein klares Zeichen, dass nicht förderlich gymnastizierend und biomechanisch sinnvoll gearbeitet wurde.
Der heutige Turniersport kennt dieses Auflösen einer Lektion vor allem als Zügel-aus-der-Hand-kauen-lassen. Die Übung überprüft (und verbessert) die Dehnungsbereitschaft. Das Pferd soll dabei vertrauensvoll den sich verlängernden Zügel annehmen und sich nach vorne abwärts dehnen. Dabei muss es im Gleichgewicht bleiben (darf also nicht auf die Vorhand kommen) und weiter über den Rücken gehen – egal ob Schritt, Trab oder Galopp.
Wie ein Pferd in einer für sein Exterieur und seinen Ausbildungsstand optimalen Dehnungshaltung aussieht, darüber berichte ich in einem späteren Beitrag.