Was wir wissen

Wir haben die einfachsten Vorgänge auf unserem Planeten nicht verstanden, maßen uns aber an, komplexe Situationen umfassend zu beurteilen. Ganz schön freche Behauptung, meinen Sie? Ich möchte sie an zwei Beispielen ausführen und dann gerne auch noch erklären, was das für mich in puncto Pferde bedeutet …

Niemand weiß bislang ganz genau, wie die Bäume es nach dem Winter schaffen, Wasser bis nach ganz oben in die Krone zu transportieren, um die ersten grünen Blätter sprießen zu lassen. Sind die Blätter vorhanden, weiß man, dass die Verdunstung von Wasser aus den Blattporen einen Sog in den dünnen Kanälen verstärkt, der das Wasser nach oben zieht, denn Wissenschaftlerinnen* konnten den vermuteten Kapillareffekt experimentell nachbauen. Wie aber der Wasserdruck zustande kommt wenn noch keine Blätter am Baum sind, dazu gibt es nach wie vor nur unterschiedliche Vermutungen.

Für immer mehr physiotherapeutische Anwendungen gibt es durch Studien belegte Wirksamkeit, etwa fürs – früher belächelte und kritisierte – Schweifziehen. (© C. Götz)

Ich finde es immer wieder faszinierend, dass es für solch vermeintlich unspektakuläre alltägliche Dinge keine wissenschaftlich fundierte Erklärung gibt – noch nicht. Denn sie kann jeden Tag kommen.

In der Zwischenzeit tun wir oft so, als ob alles, was wir zu wissen glauben, in Stein gemeißelt ist. Und das machen sogar Menschen, die es eigentlich besser wissen sollten. Wie zum Beispiel der in meinem Berufsverbandsmagazin** zitierte Journalist, der der Homöopathie außer einem Placebo-Effekt jeden Nutzen abspricht und dazu weiter behaupten darf: „Die Studienlage dazu ist eindeutig. Darüber zu streiten wäre so, als ob man ernsthaft diskutieren möchte, ob der Mensch fliegen kann oder nicht.“

Mir geht es gar nicht so sehr um den Unsinn, den der Kollege erzählt. Denn natürlich gibt es inzwischen Studien, welche die Wirkung der Homöopathie belegen. Mich stört vor allem, wie der Autor des betreffenden Artikels diese Behauptung als Argument verwendet, um den fehlenden Umgang mit Ausgewogenheit in der Berichterstattung (False Balance genannt) zu verdeutlichen.

Mir geht es also darum, wie mit dem wissenschaftlichen Stand der Dinge umgegangen wird. Er ist nämlich genau das: ein Stand. Erkenntnisse können sich jederzeit ändern. Man könnte auch sagen: Die Veränderung von als unumstößlich angesehenen Tatsachen ist die Regel, nicht die Ausnahme.

Wir sind darauf angewiesen, uns eine Meinung zu bilden wie die Welt „funktioniert“, um in ihr zurechtzukommen. Aber ich wünsche mir ein wenig mehr Respekt für die Möglichkeit der Veränderung: von vermeintlichen wissenschaftlichen Wahrheiten, von Menschen und von Pferden. Denn morgen schon kann es neue Erkenntnisse geben und dann weiß man, dass man mächtig falsch gelegen hat. Pferdige Fallbeispiele dazu im nächsten Beitrag …

* Gendern? Unbedingt!

** journalist/in 4/21, Seite 39