Warum tut Ausreiten Pferden so gut? Im vorherigen Artikel habe ich einen Teil der Antwort dazu geliefert. Ein anderer interessanter Aspekt wird von Erkenntnissen der Sportwissenschaft bestätigt. Erfahrene Pferdeleute kennen und berücksichtigen ihn allerdings schon lange.
Differenzielles Lernen heißt das Zauberwort: Kurz gesagt geht es darum, dass die Trainingsansätze aus dem menschlichen Leistungssport, eine ideale Technik zu finden und durch Wiederholung einzuschleifen, zunehmend von einem variableren Trainingskonzept abgelöst werden. Das Bewegungslernen funktioniert laut Sportwissenschaftler Dr. Wolfgang Schöllhorn dann am effektivsten, wenn dem Gehirn möglichst viele Möglichkeiten – also Variationen des zu trainierenden Bewegungsablaufes – angeboten werden.
Seit man weiß, dass Bewegung hochgradig individuell ist, und es die gesuchten Idealtechniken letztlich nicht gibt, geht das Interesse der Forschung dahin, herauszufinden, wie jeder Sportler zu seiner effektivsten Individualtechnik gelangt. Die Neurowissenschaft hat gezeigt, dass das Gehirn diesbezüglich am besten lernt, wenn es nicht ständig das Gleiche, sondern Variationen der zu erlernenden Bewegungsabläufe geboten bekommt.
Für mich war es spannend, dass die Ergebnisse der Studien sich mit dem decken, was ich aus Mentastics und von den Trager-Behandlungen kenne: Die Ansätze für Gymnastik und Therapie des amerikanischen Arztes Milton Trager befassen sich ebenfalls damit, dem Körper immer neue unterschiedliche Bewegungsanreize zu bieten: beispielsweise den Fuß von den Zehen her abzurollen oder auf der Außen- oder Innenkante zuerst aufzusetzen.
Genau das geschieht auch, wenn wir durch unebenes Gelände gehen. „Da kriegt der Körper ständig unterschiedliche Reize. Das ist auch der Grund, warum sich der Körper in der Natur am schnellsten erholt“, erklärt Schöllhorn in einem Interview mit der Zeitschrift „natürlich gesund und munter“. Die Erholung entsteht vor allem dadurch, dass sich das Gehirn bei diesen Anreizen in einen Zustand begibt, der auch für Entspannung typisch ist.
Möglicherweise laufen ja in den Gehirnen der Pferde ähnliche Prozesse ab. Naheliegend wäre es, denn die Beobachtung, dass Ausreiten, besonders im Wald mit seinen unterschiedlichen und unebenen Böden, Pferde wunderbar entspannt und lockert, ist nicht neu.
Für Reiter ist die Erkenntnis der Sportwissenschaftler aber aus weiteren Gründen interessant: Für das Pferd als Sportler und für das Bewegungslernen des Reiters. Beispiele für Variationsmöglichkeiten für alle Reiter sowie Dressur- und Springpferde stelle ich im nächsten Beitrag vor.