Als ich von Ingrid und ihrer Stute hört, war ich sofort fasziniert und wollte sie unbedingt treffen. Denn die heute 85-Jährige reitet noch immer. Und nicht nur das ist faszinierend: Sie findet auch immer noch neue Herausforderungen im Sattel und genießt das Reiten wie eh und je …
„Als junges Mädchen habe ich ab und zu mal auf Pferden gesessen“, erinnert sie sich „aber richtig reiten gelernt, das habe ich erst mit 60 Jahren.“ Als sie in Pension ging, startete sie das Projekt. Sie probierte einiges aus und wusste recht schnell „wie ich nicht reiten wollte“ – nämlich mit Kraft. „Auslöser war der Ritt auf einem Schulpferd und die Aufforderung: Zügel aufnehmen und Kreuz ran … mehr, mehr, mehr! Ich hatte Bierkästen an den Händen hängen“. Dann wurde ein Hof, zu dem sie bereits Kontakt hatte, von Westernreitern übernommen. „Da ging es lockerer zu.“ Sie nahm Unterricht und bekam bald eine Reitbeteiligung.
Dann dauerte es noch einmal zwei Jahre, bis Ingrid ihr erstes Pferd kennenlernte. Die russische Achal-Tekkiner-Stute gehörte damals einem Ehepaar, das keine Zeit für das junge, verstörte Pferd hatte. „Da es praktisch Nachbarn von mir waren, meinte meine damalige Stallbesitzerin, ich solle mich um die Stute kümmern.“ Damals hat sie sich mit den Büchern von Monty Roberts und Peter Pfister das angelesen und erarbeitet, wovon sie heute noch profitiert. Denn die Rappstute gehört nun schon lange ihr. „Es hat fast ein Jahr gedauert, bis ich in den Sattel gestiegen bin“, erinnert sie sich. „Mir war es wichtig, dass Naomi jederzeit zu bremsen ist. Ich bin zuerst nur kurze Strecken galoppiert und habe das langsam gesteigert.“
Heute sitzt Ingrid immer noch drei- bis viermal pro Woche im Sattel. Dabei geht sie viel ins Gelände. „Unsere gemeinsame Lieblingsübung ist, bergauf anzugaloppieren, immer nur für ein paar Galoppsprünge, durch die Bäume im Schritt Slalom, wieder angaloppieren und das so lange, bis wir oben sind.“ Die Region ist hügelig, so viel sei verraten.
Derzeit üben sich Ingrid und die heute 25-jährige Naomi in der Piaffe – „ein noch weit entferntes Ziel“, wie sie sagt – bei altklassischem Unterricht am losen Zügel. „Beim Reitenlernen war es mir immer das Wichtigste, schön zu sitzen, locker und aufrecht“, erklärt sie ihr Faible für leichte Reitweisen. Und sie sagt auch, sie steige „nie ohne Plan im Kopf“ auf ihr Pferd.
Dass die Devise „von nichts kommt nichts“ auch fürs Reiten gilt, ist der ehemaligen Hauptschullehrerin nicht erst seit gestern klar. „Reiten ist ideal für mich lacht sie, laufen kann ich inzwischen schlechter.“ Sie ist vor Jahren hingefallen und hat sich dabei den Oberschenkelhals gebrochen. Sechs Wochen später saß sie wieder im Sattel. „Das Ersatzteillager im Körper wächst“, sagt sie schmunzelnd, nicht ohne Stolz und mit viel Selbstironie.
Ingrid hat gelernt, ein Training für ihre altersbedingten Schwachstellen geschickt in ihren Alltag zu integrieren. „Früher habe ich Yoga gelernt, das mir aber inzwischen zu anstrengend ist“, sagt sie. Um trotzdem fit fürs Pferd zu bleiben verbindet sie alltägliche Verrichtungen mit Gymnastik und integriert so die Übungen, die ihr die nötige Beweglichkeit fürs Reiten erhalten ohne viel Aufwand in ihren Alltag. „Ich wasche mir zum Beispiel täglich die Füße im Waschbecken, das ist schon mal eine gute Übung, um in den Steigbügel zu kommen.“ Auch das Abtrocknen nach dem Duschen macht sie mit dem Handtuch zu einer Mini-Yoga-Einheit. Außerdem legt sie Wert auf gesunde Ernährung, kocht für sich und ihren Mann fast täglich.
Für mich war der Besuch bei Ingrid und ihrer Stute Naomi ein Geschenk. Sie ist ein tolles Vorbild und ich wünsche ihr, dass sie ihr Leben als Reiterin noch lange genießen kann, denn für sie ist klar, „mein Pferd ist mein Gesundbrunnen“.