Moderne Reitersagen

Manche Dinge verbreiten sich im Internet leider genauso unreflektiert wie früher per Mund-zu-Mund-Propaganda. Nur eben viel schneller. Vor einiger Zeit erzählte mir Kundschaft von der neuesten, angeblich alten Weisheit und nun findet man diese zigfach im Netz. Blödsinn ist sie aber dennoch.

Angeblich seien Sperrriemen von der Kavallerie erfunden worden, um den Unterkiefer am Maul zu fixieren, damit er bei einem Sturz nicht mehr brechen kann. Das ist nicht richtig – und zwar nichts davon, meiner Ansicht nach. Der Sperrriemen wurde in der Springreiterszene erfunden als es die Kavallerie hierzulande längst nicht mehr gab.

Das Bild aus dem Jahr 1964 zeigt ein ausreichend hoch auf dem Nasenrücken verschnalltes, gut sitzendes hannoversches Reithalfter. (© Hoffmann, Bundesarchiv; Wikipedia)

Udo Bürger, viele werden ihn durch sein 1939 erstmals erschienenes Buch „Der Reiter formt das Pferd“ kennen, schrieb über den Zusammenhang von Kieferbrüchen und Reithalftern*. Allerdings bezieht sich seine Aussage ausdrücklich und nur auf das hannoversche Reithalfter. Bürger, der an der Kavallerieschule in Hannover als leitender Veterinäroffizier tätig war, schreibt, er habe vor dessen Einführung „des öfteren Unterkieferbrüche und Kiefergelenksentzündungen gesehen“.

Es wurde also nicht dafür erfunden, er hat eine Beobachtung gemacht und daraus seine Schlüsse gezogen: Bürger war in erster Linie Tierarzt – in einer Zeit, als Rekruten und Pferde in kürzester Zeit kriegstauglich gemacht werden mussten, indem auch über feste Sprünge und Gräben geritten wurde. Besagte Stürze sind aber bei ihm nur Teil einer Aufzählung von Situationen. Und auch die gleichzeitig erwähnten Kiefergelenksentzündungen zeigen, dass das eigentliche Problem ein anderes ist.

Bürger empfiehlt das hannoversche Reithalfter als „Stütze für den Unterkiefer“, wie er es nennt, ausdrücklich nur „für Sportpferde nach abgeschlossener Grundausbildung“ und zwar lediglich in „Dauer- und Hochleistungsprüfungen, in denen das Pferd (…) über den Boden dahinfliegt“ und „der Reiter die Hände voll hat“. Es geht also um Pferde, die den Druck der Reiterhände über die Muskulatur nicht dauerhaft kompensieren können, sodass die Kiefergelenke sich entzünden.

Seine eigenen Pferde ritt Bürger vollkommen ohne Reithalfter, egal ob auf Trense oder Kandare. Er betont in diesem Zusammenhang auch, dass Reithalfter vor allem beim jungen Pferd gefährlich sind, da sie verhindern das „unbefangene Kauen“ zu erlernen. Er empfiehlt deshalb, die Benutzung von Reithalftern speziell in Materialprüfungen keinesfalls vorzuschreiben, „denn im Anfang sind sie eine Erschwerung für den Reiter und das Pferd“.

Schade, wirklich schade, dass der Mann so dermaßen falsch interpretiert wird. Und schade auch, dass er mit dem wofür er eigentlich steht bei der FN nicht mehr Gehör findet.

* Udo Bürger: Vollendete Reitkunst, 4. Auflage 1975, Verlag Paul Parey, Seite 137