Das Reitergefühl, so hört man oft, ist es, was einen guten Reiter von einem noch besseren unterscheidet. Doch was ist das eigentlich und wie schult man es? Der erste Satz in den Richtlinien* zum Gefühl des Reiters lautet: „Nur richtig und bewusst eingesetzte Hilfen führen zum Erreichen des reiterlichen Gefühls.“ Hat also ein Anfänger kein Gefühl?
Richtige Hilfen wird man nicht am ersten Tag geben können. Und doch geht es genau an diesem ersten Tag mit der Schulung des Reitergefühls los: Als mein Bruder im zarten Alter von 35 das erste Mal auf einem Pferd saß, zeigte ich ihm im Schritt am hingegebenen Zügel nur, wie er es unter sein Gewicht laufen lassen kann. Nach drei Runden wurde es ihm zu langweilig und er wollte „einen Gang höher“. Da das nicht ging, weil das Pferd in Sehnen-Reha war, lies ich ihn anhalten üben: ohne Zügel, nur mit dem Sitz. In dem Moment habe ich beschlossen, ich lasse nie wieder einen einigermaßen sportlichen und feinfühligen Mann auf eines meiner Pferde – es ist einfach zu frustrierend sich anschauen zu müssen, wie leicht die sich tun.
Scherz beiseite: Sensibilität, Anpassungsfähigkeit, körperliche Gewandtheit und Konzentrationsfähigkeit listen die Richtlinien** als notwendige Eigenschaften zum Erwerb des Reitergefühls auf. Zudem sollte auch ein Empfinden für Rhythmus und Bewegungsabläufe vorhanden sein. Das ist schön, das ist aus dem Lehrbuch.
Was allerdings mindestens genau so wichtig ist: Ein Unterricht der den Erwerb eben dieses Gefühls zulässt, besser noch fördert. Auch die Richtlinien fordern dafür ein ausgebildetes und durchlässiges Pferd und „wertvolle Erklärungen des Reitlehrers“. Soweit das Idealbild.
Was kann man selber tun, um den Erwerb des Reitergefühls zu voranzutreiben? Ich glaube, dass es förderlich ist, noch eine andere Sportart, bei der es (auch) um Koordination geht, zu praktizieren – und wenn es nur eine Stunde Yoga oder Handball die Woche ist. Ich glaube es ist wichtig, dass Lehrpferde, auch wenn sie nur rudimentär ausgebildete Schulpferde sind, respektvoll und als vollwertiges Teammitglied behandelt werden. Man erkennt auch als Anfänger den Unterschied, indem man sich verschiedene Reitschulen anschaut.
Vielfach ist auch vom goldenen Hintern die Rede, wenn es um das Reitergefühl geht. Ich glaube, es braucht auch ein goldenes Herz, um nicht nur das richtige Timing und Tempo erspüren zu können, sondern auch, wie es dem Pferd beim Training geht: Ist es bei mir, ist es mit mir? Wie fit ist es? Ist es noch aufnahmebereit? Wer dies mit dem Hintern spürt, darf das gerne machen. Andere tun sich vielleicht leichter, wenn sie diese Fragen einen anderen Körperteil stellen lassen. Oder … sie hören einfach darauf, was die große Schwester sagt.
* Richtlinien für Reiten und Fahren, Band 1, 27. Aufl., FN-Verlag, Seite 63
** ebd., Seite 90 f