Überkompensation

Unter Überkompensation versteht man im Allgemeinen einen Ausgleich (Kompensation), der höher ist als die Differenz zum Normalzustand und somit „übers Ziel hinausschießt“. Man findet den Begriff vor allem in der Psychologie. Ich wende ihn aber auch für Pferde an, wenn …

… sie nach anscheinend schweren Stürzen nicht nur nicht lahm gehen, sondern im Gegenteil sogar ausgesprochen gut, sogar besser als vorher zu laufen scheinen. Sie zeigen freilaufend beeindruckendes Imponierverhalten und gehen raumgreifend taktklar.

Zum Beispiel das Fahrpferd, das bei einem Kutschunfall den Wagen umgeschmissen hat: Es waren keine offensichtlichen Verletzungen vorhanden. Das Pferd bewegte sich schwungvoll wie immer – auf der Weide und unter dem Sattel.* Allerdings zeigte es sich bei der Korrekturarbeit zum erneuten Einspannen an Doppellonge und vor der Schleppe gestresst, was aber auf das psychische Trauma des Unfalls zurückgeführt wurde.

Erst eine osteopathische Behandlung nach einer vorübergehenden leichten Lahmheit ein knappes Jahr nach dem Unfall brachte die Schäden zutage, die in starken Verspannungen und Blockierungen durch den ganzen Körper bestanden und die von Art und Lage klar dem Unfall zugeordnet werden konnten. Warum konnte man das nicht gleich sehen?

Ich habe diesen Effekt schon häufiger beobachtet. Egal ob Warmblut oder Shetty – manche kompensieren tatsächlich sehr lange und ausgesprochen effektiv ihre Schäden. In der Natur macht das auch Sinn: Können so doch über einen längeren Zeitraum Verletzungen ausheilen, ohne dass Raubtiere auf das jeweilige Tier als leichte Beute aufmerksam werden.

Nur wird das Pferd ja gleichzeitig auch von uns genutzt. Wenn wir aber – genau wie der Beutegreifer – nicht sehen können, dass etwas kaputt ist, vergrößern wir mit Reiten oder Fahren, im Gegensatz zum Leben in freier Wildbahn, den vorliegenden Schaden.

Auch wenn noch nichts zu erkennen ist: Nach bekannten Unfällen sollte man mit physiotherapeutischen Maßnahmen oder Osteopathie prüfen, ob wirklich alles in Ordnung ist. (© C. Götz)

Meine Empfehlung: Nach bekannten Unfällen immer mit physiotherapeutischen Maßnahmen oder Osteopathie prüfen, ob wirklich alles in Ordnung ist. Ich verspreche: Man findet immer was, das nicht passt.

Übrigens: Sein Auge zu schulen lohnt sich. Laut einer Studie bemerkt fast die Hälfte selbst mittelgradige Lahmheiten nicht.

* Meine Theorie dazu: Bei einem Unfall werden körpereigene Stoffe ausgeschüttet, Adrenalin etwa, das die Durchblutung der Skelettmuskulatur erhöht. Dies kann andere, bis dahin noch unauffällige Verspannungen und leichte Blockierungen lösen, die vor dem Unfall bestanden haben und so den Eindruck vermitteln, das Pferd laufe besser. Zudem können vor allem bewegungsstarke Pferde oft so viel Energie in die Kompensation stecken, dass Bewegungen „besser“ wirken.

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